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Wenn Bäume erzählen könnten

Das Grünseelchen von Lohrhaupten

Grünseelchen-naturimpuls-Mythos-Literatur

Wenn Bäume erzählen könnten

Lesungen to go. Musik. Picknick.

 

SO  12. Juni | 14.oo Uhr

Treffpunkt: Lohrhaupten, Mühlweg 1

Dauer: ca. 2,5 Std.

Kostenbeitrag: 6 Euro | Kinder frei

Veranstalter: Gemeinde Flörsbachtal &

naturimpuls management GmbH

 

 

Ein Sonntagsspaziergang führt durch den alten Dorfkern von Lohrhaupten, begleitet von wahren Geschichten, die sich einst unter den Blätterdächern alter Bäume des Ortes ereigneten. Lohrhaupter Urgewächse erinnern sich. Unterhaltsame Lesungen unterwegs, handgemachte Musik von Leschek Karwoth (Gitarre/Gesang) und ein geselliges Picknick unter Bäumen versprechen einen außergewöhnlichen Nachmittag.

 

Eine Anmeldung ist erforderlich bis spätestens Mittwoch, den 8. Juni.

Kultursommer

Für die Veranstaltung geltenden die tagesaktuellen Corona-Regeln.

Anmeldung und Informationen

 

Gemeindeverwaltung Tel. 06057 900 112 oder

naturimpuls management GmbH  Tel. 0171 489 71 86 oder

E-Mail: marga.eisenacher@natur-impuls.com

www.grünseelchen.de

 

Kultursommer Main-Kinzig-Fulda — Grünseelchen

Mit dem Grünseelchen durch Lohrhaupten

Zum märchenhaften Dorfspaziergang, eine Veranstaltung im Rahmen des Kultursommers Main-Kinzig-Fulda, begrüßten der Bürgermeister der Gemeinde Flörsbachtal Frank Soer und der Geschäftsführer der naturimpuls Persönlichkeitsentwicklung GmbH Horst Eisenacher über vierzig Gäste und Einheimische. Bei fantastischem Wetter lauschten diese der neuen Geschichte um Grünseelchen und die unselige Trennung ihrer Freunde, die die Autorin Marga Eisenacher selbst an den acht Stationen des Rundgangs vorlas. Die eigens für die Erzählung komponierten Lieder des Liedermachers Leschek Karwoth und kulinarische Köstlichkeiten (kredenzt von Yvonne Soer und Ellen Steigerwald-Wolf) unterstrichen die Handlung.

Ausflüge in die Historie unseres Spessartdorfes in den Vorträgen der Hobbyhistoriker Udo Weiß und Paul Reinert zeigten eindrucksvoll, dass die Fiktion in unserem Märchen durchaus auf realen Begebenheiten beruht: Wer wusste beispielsweise, dass Lohrhaupten einst aus zwei Dörfern bestand, einst regelmäßig Viehmärkte ausrichten durfte, oder dass der kleine Elefant auf dem Kirchenwappen verwandtschaftliche Beziehungen nach Dänemark pflegt? Zum Abschluss im Dorfgasthaus Adler löste ein wissenschaftlicher Blick in die Zukunft dann schließlich noch die Rätsel der Vergangenheit. Tauchen auch Sie ein in die märchenhafte Erzählung und ihre Verknüpfung mit der Geschichte Lohrhauptens. Am besten bei einem entspannten Spaziergang durchs Dorf an einem besonders schönen Tag.
Impressionen vom 18. August 2019

 

 

Liebe Leser und Leserinnen, liebe Gäste auf unserer Website,

so können Sie die Geschichte um Geschwisterliebe, Magie und Imagination an den Originalschauplätzen im historischen Ortskern von Lohrhaupten live nachempfinden:

folgen Sie mit Hilfe unseres Routenplanes den Straßen und somit den Kapiteln der Geschichte. Entdecken Sie dabei den Höllenhund, Lohrchen, Heinrich und all die anderen Akteure des Märchens.

Die Strecke (ohne Märcheneiche) beträgt ca. 600 m.

Wir wünschen Ihnen einen schönen Spaziergang und viel Vergnügen!

 

Ihr Grünseelchen-Team

Grünseelchensong:

In der Stunde zwischen Nacht und Tag. Singer & Songwriter: Leschek Karwoth

Routenplan

 Der literarische Spaziergang durch den historischen Ortskern von Lohrhaupten:

„In der Stunde zwischen Nacht und Tag“

 

① An der Linde (Dünkelbachstraße 9)

② Viehtränke am „Hollerschburn“( weiter Dünkelbachstraße)

③ Am Seulbach (→ Parkanlage, angrenzend Dünkelbachstraße)

④ Kirchenportal (→ Mühlweg kreuzen, am Ende der Gasse zur Kirchtreppe)

⑤ Märcheneiche (ca. 500m die „Höll“/Steinau hinauf, gedanklich anvisieren)

⑥ Heinrichsquelle (→ Kirchweg und Heinrichsweg)

⑦ Seulbach (→ Hauptstraße →Parkanlage angrenzend Hauptstraße)

⑧ Dorfgasthaus Adler (→ Hauptstraße Richtung Rathaus)

 

Die Stunde zwischen Nacht und Tag

① Die beste Freundin

Lisa-Marie reibt sich verschlafen die Augen. Miaut dort in der Nacht ein Kätzchen? Sie tastet sich durch die dunkle Stube ans offene Fenster, durch das die Hitze des Sommertags in die nächtliche Kühle entweichen soll. Nein, dort draußen weint jemand! Es kommt von der Quelle, nicht weit vom Haus ihrer Großeltern.

Lisa-Marie, die alle im Dorf seit geraumer Zeit nur noch Grünseelchen rufen, zieht sich eilig ihr Kleid über und schleicht aus dem Haus. Auf dem kurzen Weg durch die nächtliche Lohr zur Quellenanlage kann sie über der Maröder Höhe fast schon den neuen Tag erahnen. Die Lohrquelle ist einer ihrer liebsten Spielorte, seit die Großeltern sie als kleines Kind bei sich aufgenommen haben. Vor allem aber fließt dort das kostbare Wasser, durch das sie die erste ihrer besonderen Gaben entdeckt hat. Grünseelchen findet den vertrauten Weg zur Quelle wie im Schlaf.

Lohrchen

Unten auf dem Steinquader entdeckt sie das Lohrchen, umspült vom Wasser. In Bronze gegossen, wie ein Häufchen Elend kauert sie dort in der Dunkelheit. Grünseelchen beugt sich über das Geländer und ihr Herz kann den großen Kummer fühlen, als wäre es ihr eigener.

Mit einem Mal reckt das Lohrchen vorsichtig den Hals, dreht den Kopf ein klein wenig und beginnt sich langsam aufzurichten. Es macht einen großen Schritt  über das sacht plätschernde Wasser und tastet sich die steinernen Stufen herauf. Grünseelchen umarmt ihre Freundin.

Bis heute war es Grünseelchens Geheimnis: In der Stunde zwischen Nacht und Tag erwachen in ihrer Gegenwart Figuren und Skulpturen des Dorfes aus ihrer Erstarrung. Im letzten Jahr erst hat sie diese neue Fähigkeit staunend entdeckt bei einem heimlichen Streifzug zur Quelle.  Lohrchen war die erste dieser zum Leben erwachten Figuren und ist nun ihre beste Freundin.

„Warum weinst du denn?“, fragt Grünseelchen.

„Ach, ich habe solche Sehnsucht nach meinem kleinen Bruder. So gerne würde ich Heinrich einmal wieder umarmen, oder wenigstens an der Hand nehmen, wie früher.“

Lohrchen lässt die Schultern hängen.

„Ich kann das nicht länger mitansehen!“ Grünseelchen zieht ihre Freundin energisch an der Hand.

“Wir müssen endlich diesen verteufelten Zauber lösen! Hast du denn so gar keine Erinnerung mehr, was damals passiert ist?“

Aber  Grünseelchen kennt die Antwort ja schon: Lohrchen hat alles vergessen. Sie kann ihren lieben Bruder Heinrich nur sehen, ihm höchstens zuwinken. Ihn aber berühren, mit ihm sprechen, gar umarmen, das ist ihr unmöglich. Irgendeine unbekannte magische Kraft trennt die Geschwister seit langer Zeit.

Arm in Arm gehen die beiden Mädchen die nächtliche  Lohr hinunter und über den Mühlberg in die Dünkelbachstraße hinein. Wie aus dem Nichts ertönt plötzlich ein grimmiges Gebell, das sofort in leises Fiepen übergeht, als sie am Hofzäunchen ankommen. Eilig huscht Lohrchen hin zu Kerberos. Auch er ist eines der durch Grünseelchens Gabe verwandelten Geschöpfe. Der Höllenhund zerrt ungestüm an seiner Kette. Lohrchen bindet ihn los und drückt ihr Gesicht mit einem tiefen Seufzer in sein schwarzes Fell. Der riesige Hund schmiegt sich an Lohrchen als gehörten sie schon immer zusammen.

Die Mädchen  gehen ein Stück weiter durch die Gasse zur Viehtränke hin, Kerberos trottet sanft wie ein Lamm nebenher.

 

② Weiter durch die Nacht

Am Trog hebt Attila sein mächtiges Haupt und glotzt ihnen mit großen Kuhaugen entgegen.  Der einst so prächtige Kopfschmuck des Ochsen ist damals beim großen Markt dem teuflischen  Zorn jenes vermaledeiten Viehtreibers zum Opfer gefallen. Der verkaufte ihn dann unter der Hand an einen  Bauern, dessen armseliges Gehöft nahe der Seulbach lag. Die Kumpels aus der gewaltigen Herde, mit der Attila die weite Strecke von Ungarn her schon gezogen war, verschwanden einer nach dem andern  im Wald, auf ihrem Treck über die Birkenhainer hin nach Frankfurt. Er als einziger blieb im Dorf zurück.

Sehnsüchtig hat der Ochse in seiner ehernen Gestalt am Tränkbecken gewartet, bis Grünseelchen ihn wieder einmal aus seiner Starre erlösen würde. Er gäbe viel darum, in der Mittagshitze seinen unbändigen  Durst hier am Hollerschburn stillen zu können. Doch das herrlich nachtkühle Quellwasser ist auch nicht zu verachten und so versenkt er seine Schnute erst einmal tief in den steinernen Trog, bevor er sich den nächtlichen Spaziergängern anschließt. Grünseelchen, Lohre, ihr sanfter Hund Kerberos und der  Einhörnige folgen weiter der Dünkelbachstraße.

Schon wieder kullern Tränen über Lohrchens Gesicht.

 

③ Die gläserne Wand

Am Seulbach kommen Lohrchen, ihr Hund und der Ochse nicht weiter, der Weg ist für diese drei Geschöpfe hier zu Ende. Traurig bleibt Lohrchen stehen und legt ihre Handflächen, ja tatsächlich, sie legt ihre Handflächen an eine gläserne Wand. Eine geheimnisvolle Begrenzung aus Glas erhebt sich hoch über dem Wasserlauf, den Lohrchen dunkel als Seligenbach in ihrer Erinnerung trägt. Die Wand ist  undurchdringbar für die drei, selbst für jedes ihrer Worte und Laute. Am anderen Bachufer schält sich eine Gestalt aus der Dunkelheit heraus. Es ist der kleine Heinrich. Auch er hat schon ungeduldig Grünseelchen und ihre erlösende Gabe erwartet. Für kurze Zeit befreit von seiner bronzenen Hülle, freut er sich auf Lohrchen. Er begrüßt sie mit dem vertrauten Handanlegen ans kalte Glas. Leider kann auch Heinrich die Wand nicht bezwingen. So gerne würde er seiner großen Schwester mal einen neckischen Schubs geben.

 

Grünseelchen und die anderen Menschen und Tiere des Dorfes können die Wand weder sehen noch fühlen. Für sie existiert hier am Seulbach keinerlei Barriere.

Grünseelchen seufzt. Wie kann sie die Geschwister nur wieder zusammenbringen? Vielleicht wird sie Hilfe oben am Berg über der Steinau finden. Vielleicht sogar herausfinden, was damals mit den Geschwistern geschehen ist?

 

„Verzweifelt nicht! Wir schaffen das schon! “ Sie streicht ihrer Freundin sanft über die Schulter und winkt noch zum Abschied.

Kerberos leckt dem weinenden Lohrchen gelassen über die Wange und trocknet so ihre Tränen. Im Finstern überragt seine Silhouette die zierliche Statur des Mädchens. Hoch über den beiden stößt das Horn des Ochsen an die gläserne Wand. Selbst seine gewaltige Kraft vermag nicht, sie zu zerbrechen.

Grünseelchen überquert unterdessen den Seulbach, eilt hinüber in die Gasse, die zur Kirchtreppe führt und steigt flink die 53 steilen Stufen hinauf.

④ Die Mitstreiter

Oben vor dem Kirchenportal verschnauft sie erst einmal.  Grünseelchens Rettungsplan ist auf den 53 Stufen zur Kirche herauf  weiter gereift und sie braucht dafür dringend  Mitstreiter. Schon trompetet es fröhlich auf Dänisch „Hej Grünseelchen, godmorgen!“  an ihr Ohr, begleitet von einem tiefen, zweistimmigen Brummen. Jedem anderen würden sich die Nackenhaare aufstellen. Doch dem Mädchen  ist das freundliche Schnurren vertraut und sie blickt ungeduldig ins Dunkel des Friedhofstores.

Seite an Seite schreiten sie heran. Mit jedem ihrer  Schritte erkennt sind die Gestalten deutlicher:

Ihre Majestäten die landgräflichen Löwen.

Gleich dahinter tippelt der kleine Elefant mit dem Ringelschwanz. Die drei sind Grünseelchens Freunde, die gewöhnlich in Stein gehauen auf dem Kirchenwappen thronen. Schon in mancher frühen Stunde haben sie hinter der steinernen Mauer Verstecken gespielt. Meistens verrät sich Ringelschwanz dabei selbst, wenn sein vorwitziges Rüsselchen ums Eck seines steinernen Verstecks linst. Die Löwen dagegen finden mit Riesensprüngen die besten Schlupflöcher.

 

⑤ Mutter Eiche

„Kommt ihr mit zur Mutter Eiche?“, fragt das Mädchen ihre Freunde und deutet zur steilen Gasse hinauf.

„Es ist an der Zeit, uralte Wände einzureißen!“

Die Löwen und Ringelschwanz wollen gerne helfen und ziehen mit Grünseelchen die Höll hinauf. Auf halbem Weg flattert es aufgeregt über ihren Köpfen.

„Ich mach mit! Ich mach mit!“

Der Kirchturmhahn hat von seiner hohen Warte aus alles beobachtet und schließt sich dem Hilfstrupp an.

 

Mutter Eiche am Waldrand, oben auf der Höhe der Steinau, ist alt. So alt, dass sich niemand an das zarte Bäumchen, das sie einmal war, erinnern kann. Sie könnte so manche Geschichte erzählen, deshalb nennen die Lohrhaupter sie die Märcheneiche.

Grünseelchen ist ihr und den Seelen, die unter ihren schützenden Armen eine beständige Heimat gefunden haben, auf besondere Weise verbunden.

Glücklicherweise trägt das Mädchen ihren Krug mit Wasser aus der Lohrquelle immer bei sich. Sie spricht leise den Vers:

 

Linkes Ohr, L wie Lohr
Linke Hand voll Wasser nehm‘
Ans Ohr hinauf und schnell davor
Dann hörst du alles ganz bequem

 

Jetzt kann Grünseelchen dem ehrwürdigen Baum ihre Bitte vortragen:

„Mutter Eiche! Lohrchen und Heinrich sind so unglücklich. Wie können sie denn endlich wieder zusammen sein? Bitte hilf uns.“

Aus der Höhlung des mächtigen Stammes wispert es zunächst leise. Nach und nach werden die Stimmen immer lauter und deutlicher, und die Freunde lauschen dem weisen Rat der Seelen:

Wenn Heinrichs und Lohrchens Quellen vereint,

Wenn Gerste auf Frau Lindes Höhe gekeimt,

Wenn Beeren von Gäns´ruh und Wolfskaut´ gewachsen.

Wird schmelzen das Glas im funkelnden Glanz.

Dann geh ‘n Schwester und Bruder über zum Tanz.

 

Grünseelchen versteht sofort, was der Spruch zu bedeuten hat.

Geschwind schickt sie ihre Freunde los in alle Himmelsrichtungen.

Dankbar streicheln ihre Hände noch einmal über die raue Rinde der Märcheneiche. Die Zeit drängt.

Sie müssen alle so schnell wie möglich ihre Aufträge erfüllen und sich dann am Heinrichsborn treffen. Denn die ersten Sonnenstrahlen werden die Geschöpfe unabwendbar wieder in ihre Erstarrung verbannen.

 

⑥ Der geheimnisvolle Sud

Schnell steigt Grünseelchen mit Ringelschwanz die Steinau hinab zum Heinrichsborn. Dort trifft sie den unglücklichen Heinrich, der sich an seinen Quell zurückgezogen hat. Schon treffen auch die Löwen ein. In ihren Pranken tragen sie saftige Beeren, die die Raubkatzen mit Riesensprüngen aus der Gäns´ruh herbeigeholt haben.

Auch der Kirchturmhahn kommt aufgeregt beim Brunnen angeflattert. Gut, dass sich sein pfeilgeschwinder Freund mit den mächtigen Schwingen, der Adler, dank Grünseelchens Gabe von der Wirtshausmauer erhoben hatte. Der Vogel kreist schon über dem Born.

Ihn hat der Hahn zum Hüßberg geschickt, wo die Linde auf der Höhe steht und die „Wolfskaute“ sich im Tal erstreckt.

Der Greif hat dort die Gerstenhalme und Beerenranken in Windeseile mit seinen Klauen abgerupft und lässt jetzt die kostbaren Früchte in Grünseelchens gerafftes Kleid fallen. Sofort erhebt er sich wieder in den noch nachtschwarzen Himmel.

 

Jetzt sind alle Zutaten beisammen.

Ringelschwanz saugt mit seinem Rüsselchen Quellwasser aus dem Heinrichsborn und pustet es in den Krug. Zum Glück steht das gläserne Gefäß für Anwohner und durstige Wanderer immer an der Quelle bereit, denn das “Heinrichswasser“ ist als wohlbekömmlich und heilend bekannt. Mit dem Inhalt aus Grünseelchens Krüglein sind nun die Quellen von Lohr und Heinrichsborn vereint. Das Mädchen gibt die Beeren von der Gänseruh´ und die aus der Wolfskaute dazu und zu guter Letzt wirft Heinrich hoffnungsvoll die Gerstenähren hinein.

Atemlos stehen sie um den Krug. Auf einmal beginnt es aus dem Krug heraus geheimnisvoll zu glänzen und zu funkeln.

 

Grünseelchen nimmt das Gefäß vorsichtig auf und läuft los, so schnell es der Krug mit dem kostbaren Sud erlaubt. Hinter ihr marschieren Heinrich, die Majestäten, Ringelschwanz und der Kirchturmgockel. Es geht durch die Dämmerung zur Straße hinunter, am Dorfbrunnen vorbei und hin zum Seulbach.

 

⑦ Brüderchen, komm tanz´ mit mir…

Sehnlichst erwarten sie dort auf der anderen Seite der gläsernen Wand schon Lohrchen, Kerberos und der einhörnige Stier. Sie sind umgeben von Gänsen, Fröschen, Gartenzwergen, dem Widder mit den gedrehten Hörnern und vielen anderen Geschöpfen, die in den anderen Stunden des Tages in Stein, Holz oder Bronze gebannt sind.

 

Mit Schwung schüttet Grünseelchen den funkelnden Inhalt ihres Kruges über den Bach…

 

Wie wird die Geschichte wohl enden?

 

Natürlich gut, wie alle Märchen enden sollten!

Die Wand löst sich mit grellem Zischen in Nichts auf.

Bruder und Schwester fallen sich in die Arme. Sie spielen und tanzen fröhlich miteinander, und Kerberos will ihnen alle Zeit der liebste und treueste Gefährte sein.

Attila steht zufrieden am Ufer des Seulbachs.

 

Dies alles geschieht in der Stunde zwischen Nacht und Tag.

Viel zu früh klettern die ersten Sonnenstrahlen im Osten über den Waldrand. Das fröhliche Spiel endet.

Vorerst.

Die restliche Zeit dieses und jedes anderen Tages verbringen Lohrchen, Heinrich und all die anderen, wie wir alle wissen, als Brunnenfiguren und Hofwächter, als Wappentiere oder Dachreiter.

Doch Grünseelchen, so lässt sich vermuten, wird gewiss bald wieder durchs Dorf streifen…

 

***

 

Von der gläsernen Wand über dem Seulbach und von den zum Leben erwachten Figuren des Dorfes haben Sie, liebe Leser und Leserinnen hier erfahren.

Erzählen Sie es weiter! Verbreiten Sie das Wissen um Grünseelchens geheimnisvolle neue Gabe. Grünseelchen ist oft des Nachts unterwegs.

 

Kommen Sie doch einmal im Morgengrauen an den Seulbach, den wir von heute an wohl richtiger Seligenbach nennen sollten. Dann, und nur dann können Sie selbst miterleben, wie das Lohrchen und ihr kleiner Bruder Haanerich, wie Kerberos und all die anderen selig miteinander spielen:

 

In der Stunde zwischen Nacht und Tag.

 

 

⑧ Der Blick in die Zukunft löst die Rätsel der Vergangenheit:

Das Geheimnis der gläsernen Wand

 

Meeting der Archäologen und Grabungshelfer

Aus dem Grabungsbericht der Archäologischen Grabung: „Glashütte Lohrhaupten“

August 2026:

 

Fundobjekt Nr. 13

Karaffe aus Waldglas, Höhe 27,3 cm;

Mit einem umwickelten Holzstopfen und Bienenwachssiegel verschlossen. Vollständig erhalten.

 

Fundobjekt Nr. 14

Glaskugel

massiv, Durchmesser 10.0 cm, exakte Kugelform

 

Fundobjekt Nr. 15

Pergamentrolle; beschrieben.

Nach Öffnung des Siegels der Glaskaraffe (Fundobjekt Nr. 13) entnommen.

 

Der Text auf dem Pergament ist teilweise erhalten. Es wurde eine gesonderte Analyse des Textmaterials veranlasst, um Erkenntnisse über mögliche Zusammenhänge mit den vor einem Jahr entdeckten Dokumenten über Glasmacherfamilien aus  Lohrhaupten zu gewinnen. Die dahingehende Forschung ist noch nicht abgeschlossen.

 

Es ist uns gelungen, das Textfragment weitgehend zu rekonstruieren und in moderne Deutsche Sprache zu übertragen.

Der Text auf dem Pergament lautet dementsprechend wie folgt:

 

Das Lied des Magiers

 

Der Meister der Hütten,

große Macht er besaß.

heiß floss sein Zauber

in die Kugel aus Glas.

 

Streng verboten hat´s der Magier,

doch die Kinder sind keck.

Sie tragen den Ball

ins Dorf hinweg.

 

Das Spiel mit dem gläsernen Ball

ist lustig, ist Glück.

Von Seulbach nach Lohrhaupten

und wieder zurück.

Die Formel

Wenn Heinrichs und Lohrchens Quellen vereint,

Wenn Ähren auf Frau Lindes Höhe gekeimt,

Wenn Beeren von Gäns´ruh und Wolfskaut´ gewachsen.

Wird schmelzen das Glas durch funkelnden Glanz.

Dann geh‘n Schwester und Bruder über zum Tanz.

 

 

Lustig schnappt er danach,

Kerberos, ihr Hund.

Und der Ball –

zerbricht auf dem Grund.

 

Alles erstarrt.

Bruder und Schwester und Tier.

„Gleich dem Glas aus dem Ofen –

gebannt seid ihr!“

 

Sie hebt sich empor überm Wasser der Sel´gen.

Trennt Ufer von Ufer:

die gläserne Wand.

Und Schwester von Bruder.

 

Ein Sud, sehr speziell, kann lösen den Bann,

den der Meister ihr gab.

Doch die Formel nimmt seine Seele

mit ins Grab.

 

Mit den Seelen sprechen –

nur wer das vermag,

wird die Magie durchbrechen

in der Stunde zwischen Nacht und Tag.

 

 

©Marga Eisenacher 2019