Das Grünseelchen von Lohrhaupten
Station 6: Unterm Hochsitz
Lisa-Marie war immer öfter alleine unterwegs im Lohrhaupter Gemeindewald, um über den Seekopf zum Hermannsborn und weiter zu ihrem Rückzugspunkt auf dem Hochsitz zu laufen. Jedes Mal, wenn sie dabei am »Wald der Stille« vorbeikam, gedachte sie dieser drei Verstorbenen, die ihr persönlich so gut bekannt waren. Es dauerte nicht lange, bis sie – ganz in Gedanken – nach ihnen rief. Immer nur einen kurzen Gruß, doch dies wurde zum Ritual, sobald sie den Schanzkopf passierte.
„Hallo Klaus, hallo Maria, hallo Wilhelm“, rief sie stets in der gleichen Reihenfolge, „hier ist Lisa-Marie. Heute sind die Kettensägen bis vom Büschel herauf hörbar.“ Oder sie rief: „Hier ist Lisa-Marie, die Luft riecht schon nach Schnee, schön für den Adventsmarkt auf der Schanz! Macht’s gut, bis bald!“
Es geschah in den letzten Sommerferien, bevor Lisa-Marie eine Lehrstelle antreten sollte. Sie spürte längst, dass ein bitterer Abschied nahte, und dehnte deshalb ihre täglichen Wanderungen noch weiter aus. Nahm alles und jedes Detail in sich auf, um sich ganz bestimmt daran zurückerinnern zu können, und ging sogar bis zum Kloster Einsiedel hinüber. Auf dem Rückweg, vorbei am »Wald der Stille«, rief sie wie gewohnt die drei Namen Klaus, Maria und Wilhelm und erzählte von ihrem Ausflug. Doch auf den Abschiedsgruß hin stellte sich bei ihr ein mulmiges Gefühl ein – beklemmend, aber nicht bedrohlich. In diesem Moment schien die Zeit für sie stehenzubleiben und die Geräusche des Waldes verstummten.
Lisa-Marie verstand sofort, was dies zu bedeuten hatte.
Ihren Abschiedsgruß wiederholte sie nun mit den Worten „bis bald Klaus, Maria, Wilhelm – und alle anderen, die hier wohnen!“ Ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit durchströmte sie. Wenn sie bis dahin geglaubt hatte, sich an Wilhelms Stimme von damals, als sie noch ein kleines Kind war, nur zu erinnern, so erkannte sie jetzt die Wahrheit: Sie konnte ihn tatsächlich hören, das war keine Einbildung!
Wie mechanisch lief sie weiter, ohne bestimmtes Ziel, nur um in Bewegung zu bleiben. Wenigstens das sollte so sein wie immer, wenngleich die Welt, die sie bisher kannte, nicht mehr zu existieren schien. Ihre Füße hatten sie zum Hochsitz getragen, ohne dass sie so recht wusste, wie sie hierhergekommen war. Um ihr erhitztes Gemüt zu erfrischen, goss sie sich etwas vom mitgebrachten Quellwasser in die linke Hand, kühlte damit ihre Wangen und strich sich die Haare aus dem Gesicht hinters Ohr.
Sie hatte sich gerade unterm Hochsitz vor dem Ahorn ins Gras gesetzt, als sie Wilhelms Stimme klar und deutlich vernahm. „Mariechen“, so hatte er sie immer genannt, „Mariechen, wir sind viele hier oben. Zu viele. Manche sind zu zwölft an einem Baum, da hat die Seele keinen Platz. Deshalb begegnest du uns auch schon im Wintersbusch, oder im Schaftrieb und im Krombacher Wald. Umarme einen Baum und lege dein linkes Ohr an seine Rinde, warte bis das Rauschen deines eigenen Blutes verklingt und lausche dann, was dir die Seele dieses Baumes zu erzählen hat.“
Lisa-Marie sprang auf. Trotz der angenehmen Temperaturen, die einen lauen Sommerabend versprachen, war es ihr schon wieder zu heiß geworden; sie sollte deshalb besser nach Hause gehen. Dennoch schlug sie nicht den kürzesten Weg ein, der sie querfeldein hinunter in den Ort geführt hätte, sondern bog instinktiv ab zur Linde, die sie von klein auf liebte.