Das Grünseelchen von Lohrhaupten
Station 5: An der Hecke
Die Sitzgruppe im Schutz der Haselnusssträucher blieb weiterhin ihr Treffpunkt für die gemeinsamen Hausaufgaben, zu deren Lösung so mancher Baum beitragen konnte. Alexander sah bewundernd zu Lisa-Marie, wenn sie mit spielerischer Leichtigkeit auf der Rinde einer Birke die Weltkarte entdeckte und der runde Stamm sofort zum Globus wurde. Wenn es die Zeit vor dem Abendessen erlaubte, lief sie gerne mit ihm bis zur hessischen Schanz, der Zollstation, die zu Napoleons Zeiten von den Soldaten überfallen worden war. Obwohl dort nur noch ein unscheinbares Hinweisschild an den Standort erinnerte, regte sie die Umgebung an, über Elisabeth und Laurent und deren weiteres Schicksal zu spekulieren.
Als Alexander unerwartet und mitten im Schuljahr seinen Eltern in eine ferne Stadt folgen musste, fand die unbeschwerte Freundschaft ein jähes Ende. Lisa-Marie kam zwar weiterhin regelmäßig zu ihrer geliebten Sitzgruppe und hielt Kontakt zu Alexander, aber zur hessischen Schanz ging sie kaum noch. Sie bog lieber vorher ab zum Hochsitz neben dem Ahorn.
Auf ihrem Weg dorthin hörte sie immer häufiger viele Fahrzeuge, die zu den Parkplätzen im »Wald der Stille« fuhren, der Begräbnisstätte im Wald von Flörsbachtal. Weil sie die schützenden Bäume liebte, konnte sie sich auch für diejenigen freuen, die ebenfalls einen Platz in diesem schönen Wald gefunden hatten – aber es wurden stetig mehr.
Selbst schon ganz früh mit dem Tod innig geliebter Menschen konfrontiert, schenkte sie sogar dem Tod eines jeden Fremden ihr aufrichtiges Mitgefühl. Doch bald sollten es nicht nur Fremde sein, die ihre letzte Ruhe im »Wald der Stille« fanden. Einen Platz bei der Hermannskoppe hatte sich auch Wilhelm ausgesucht, ein Schulfreund ihres Großvaters, bei dem sie oft genug als kleines Mädchen auf den Knien schaukeln durfte und dessen Stallhasen von ihr nur das frischeste Grün bekamen, das sie finden konnte. Wilhelm wollte nach seinem Tod den Überblick behalten, wie er es nannte, deshalb war die Hermannskoppe ideal für seine Beisetzung, nicht nur wegen der Nähe zur Bayrischen Schanz, seinem Stammlokal.
Ihm folgte kurz darauf Maria, eine Freundin der Großmutter, von der Lisa-Marie zuerst nur selbstgestrickte Puppenkleider, bald aber eigene Söckchen und Pullover geschenkt bekommen hatte. Unter diesen Eindrücken änderten sich allmählich Lisa-Maries Empfindungen zum »Wald der Stille«, es schien, als ob sie nun noch ehrfürchtiger in die Richtung der Birkenhainer lief. Ihr selbst wurde dies schmerzlich bewusst, als Klaus dort einen Platz bekommen musste.
Klaus, der älteste Sohn der Nachbarn, hatte sie manchmal mit seinem Motorrad ein Stückchen mitgenommen; nur bis zum Haurain und zurück. Aber diese Fahrten, während sie hinter Klaus saß, sich mit den Armen an ihm festhielt und der warme Sommerwind ihr Haar zerzauste, würde sie nie vergessen. Klaus war an der roten Mühle bei Partenstein verunglückt.