Das Grünseelchen von Lohrhaupten
Station 7: Die Linde – das Quellwasser

Noch einmal griff Lisa-Marie mit der rechten Hand zum Krug mit dem Quellwasser, um sich abzukühlen. Doch bevor sie es in die hohle linke Hand goss, verstand sie nun auf einmal den Wert des Wassers.

Linkes Ohr, L wie Lohr
Linke Hand voll Wasser nehm‘
Ans Ohr hinauf und schnell davor
Dann hörst du alles ganz bequem

Vorsichtig betupfte sie ihr linkes Ohr, beinahe so, als würde sie teuerstes Parfüm verwenden. Schutz suchend umarmte sie die Linde, wie sie es als kleines Mädchen schon gemacht hatte und legte ihr linkes Ohr zaghaft an den Stamm. Das laute Rauschen ihres Blutes ebbte in dem Maße ab, wie sie sich beruhigte und eine gewisse Geborgenheit zu fühlen begann.

„Mariechen!“ Das war unverkennbar wieder Wilhelms Stimme: „Mariechen, wir führen ein gutes Leben, wenn wir uns erst einmal daran gewöhnt haben. Die Umstellung ist nicht einfach und dauert eine Weile, aber sie ist gut organisiert. Wenn du schon gleich zu Anfang zu einer fremden Seele gesetzt wirst, die du ja keinesfalls in ihrer Ruhe stören willst, stehen Freundschaftsbäume bereit. Die bieten Raum für alle Seelen, so lange sie ihren eigenen, dauerhaften Platz noch nicht gefunden haben. Manchmal braucht es länger, manchmal geht es schneller, bis es so weit ist. Währenddessen lernen wir unsere alte, gut bekannte Umgebung neu kennen mit ihren uns zuvor unbekannten Regeln und Gepflogenheiten.

Solche Freundschaftsbäume sind die Kreuzeleichen am Hang vor dem »Wald der Stille«. Und du glaubst nicht, wie wichtig die sind als Zufluchtsstätte nach Stürmen mit Windbruch, oder – viel schlimmer noch – nach Baumfällarbeiten in den umliegenden Wäldern. Dabei verlieren viele Seelen ihre gewohnte Heimat und kommen auf der Suche nach einer neuen Bleibe hierher. Nicht selten sind dabei auch Paare oder kleine Gruppen, die sich in ihrer Wesensgleichheit gefunden haben.“

Lisa-Marie löste ihr Ohr vom Stamm der Linde und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie tatsächlich sehen konnte. Es gelang ihr erst, als sie das untere Ende der Hüßhöll fast schon erreicht hatte. Wortkarg setzte sie sich in der Küche zum Essen, müde von der ausgedehnten Wanderung und erschöpft von den vielen Gedanken, die sich um ihren ereignisreichen Nachmittag drehten.

An diesem Abend ging Lisa-Marie sehr früh zu Bett, um Gelegenheit zu haben, alleine nachzudenken. Am nächsten Morgen, einem Sonntag, verspürte sie das starke Bedürfnis mit jemandem zu sprechen, dem sie alles von ihren ebenso unvorstellbaren wie realen Erfahrungen erzählen konnte. Deshalb ging sie geradewegs auf den Lohrhaupter Friedhof neben der Matthäuskirche zum Grab ihrer Eltern. Sie würde zu ihrer Mutter sprechen und dabei bestimmt alle Gefühle und Gedanken ordnen können.

Lisa-Marie war sich nicht bewusst, dass sie ihre Erlebnisse laut aussprach, während sie vor dem Grab ihrer Eltern stand. Die neue Pfarrerin, die erst wenige Wochen vorher in ihr Amt eingeführt worden war, hatte eben ihren Weg zur Kirche eingeschlagen. Als sie Lisa-Marie aus der Ferne erkannte, wollte sie zuerst zu ihr hingehen und sie begrüßen. Doch als sie merkte, dass Lisa-Marie laut und zutiefst ergriffen zum Grabstein ihrer Eltern redete, blieb sie in einiger Entfernung stehen und hörte aufmerksam zu. Beeindruckt von der Inbrunst, mit der Lisa erzählt hatte, entschied sie sich, nicht gleich zu ihr hinzugehen. Sie trug die ganze Geschichte ins Kirchenbuch ein, damit sie dort für immer nachzulesen ist. Als persönliche Anmerkung ergänzte sie den starken Eindruck, den sie bisher von den treusorgenden Großeltern und ihrer liebenswerten Enkelin gewonnen hatte: Ein richtiges Seelchen und so naturverbunden: das Grünseelchen von Lohrhaupten.