Das Grünseelchen von Lohrhaupten
Station 1: Beim Lohrchen
Als Lisa-Maries Eltern bei einem tragischen Autounfall starben, holten die Großeltern ihre kleine Enkelin selbstverständlich sofort zu sich. Es war nicht mehr zu ermitteln, warum das Auto, das Lisa-Maries Vater damals Richtung Würzburg gelenkt hatte, frontal auf einen entgegenkommenden Lkw geprallt und sofort in Flammen aufgegangen war.
Das zarte Kind war noch stiller geworden, seit es bei den Großeltern in Lohrhaupten wohnte und verhielt sich so, als ob es für diesen schrecklichen Schicksalsschlag auch noch hätte weiter büßen müssen, Furcht vor einer weiteren schlimmen Strafe hätte und deshalb nichts falsch machen durfte. Was wäre, wenn es die Großeltern auch noch verlöre? Das mochte Lisa Marie sich gar nicht erst ausdenken!
Meist schweigend begleitete Lisa-Marie ihren Großvater bei seinen täglichen Exkursionen hinauf auf den Hüßberg und hinüber zur Schanz, immer darauf bedacht, nur ja keines seiner Worte zu versäumen. So lernte sie von ihm den Wald und seine Pflanzen kennen, die Spuren der Tiere zu lesen, die Sprache der Vögel zu deuten und den Kreislauf der Natur durch die Jahreszeiten hindurch zu verstehen.
So lange Lisa-Marie noch klein war, nahm der Großvater sie bei der Hand, aber oft genug auch auf seine Schultern, damit sie ihn begleiten konnte. Fürchtete sie sich anfangs noch vor der fremden Umgebung, so bereitete ihr die Zeit, in der sie so viel liebevolle und ungeteilte Aufmerksamkeit erfuhr, immer größere Freude.
Zuerst lernte Lisa-Marie die Gassen und Wege in der Nachbarschaft und näheren Umgebung kennen. Dabei war sie fasziniert von der Lohr-Quelle, an der sie immer vorbeikamen. Ihr gefiel, wie das Wasser leise murmelnd über die Steine plätscherte und sie mochte das kleine Mädchen aus Bronze, das auf die Quelle aufpasste, das Lohrchen. Nach einer kurzen Rast füllte der Großvater dort die Wasserflasche, damit sie sich unterwegs erfrischen konnten. Lisa-Marie vergaß nie, dem Lohrchen noch einmal zuzuwinken, bevor es hinaufging auf den Hüßberg. Oft sang sie dann auch den Kinderreim, den sie von ihrer Großmutter gelernt hatte, während sie gebadet wurde.
Linkes Ohr, L wie Lohr
Linke Hand voll Wasser nehm‘
Ans Ohr hinauf und schnell davor
Dann hörst du alles ganz bequem
Dazu hätte sie so gerne in der Badewanne abwechselnd mit dem linken und dem rechten Bein gehüpft. Das holte Lisa-Marie dann auf den Pflastersteinen vor der Lohr-Quelle mit Begeisterung nach.
Gleich am ersten Morgen, nachdem sie in Lohrhaupten angekommen war, hatte sie der Großvater damit überrascht, ihr die Märcheneiche am anderen Ende des Ortes vorzustellen. Der uralte knorrige Baum war so groß und hohl, dass Lisa-Marie in einer Öffnung des riesigen Stammes genug Platz fand, um hineinzulaufen und sich in der Eiche sogar zu verstecken. Meist schlug der Großvater jedoch die Richtung zum Hüßberg ein, für die er einen Hohlweg wählte, bei dessen Namen es Lisa-Marie anfangs schauderte, weil sie sich eigentlich ein bisschen vor der Hölle fürchtete. Aber in der Hüßhöll, oder Nüßhöll, wie die Großmutter den idyllischen Hohlweg ebenfalls nannte, fühlte sie sich recht bald ebenso wohl und geborgen wie in der Öffnung der Märcheneiche.